Sexualpädagogik – jetzt wichtiger denn je!
Fast jedes vierte Mädchen und fast jeder achte Bursche in Österreich unter 16 Jahren machen Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt. Pornografische Webseiten gelten für 50 Prozent der Burschen als Aufklärungsmedium Nummer 1. Digitale medial verbreitete Schönheitsideale üben einen massiven Einfluss und Druck auf unsere Körperwahrnehmung aus, die sich auch in Trends zur und in der plastischen Chirurgie niederschlagen. Sexting (Verschicken von pornographischen Fotos per mobile Messaging) und Cybergrooming (Erwachsene kontaktieren Kinder und Jugendliche im Internet gezielt mit sexuellen Absichten), Rache-Pornos...
Das sind nur einige der Trends, die zeigen, mit welchen Strömungen die Gesellschaft - Erwachsene, Jugendliche und sogar auch schon Kinder - konfrontiert sind und durch die sich viele Eltern, Bezugs- und Lehrpersonen unsicher und überfordert fühlen.
„Sexualpädagogik ist heute wichtiger denn je", stellt Ursula Lackner, Landesrätin für Bildung und Gesellschaft, fest. „Wir leben in einer Zeit sexueller Reizüberflutung. Noch nie war es so leicht, an pornographisches Material zu kommen, noch nie war es so einfach, solches zu verbreiten. Diese pornographischen Bilder und Videos prägen die sexuellen Vorstellungen von Jugendlichen: meist unrealistisch, oft in Verbindung mit psychischer und physischer Gewalt. Aber nur selten decken sich diese Vorstellungen mit jenem Wert, den unsere Gesellschaft dem sexuellem Miteinander gibt: etwas Schönes, Zärtliches, Liebevolles."
Das Land Steiermark unterstützt daher den Einsatz von ausgebildeten SexualpädagogInnen, deren Aufgabe es ist, sexuelle Bildung dorthin zu bringen, wo sie am nötigsten gebraucht wird. Sie stehen für eine Sexualpädagogik, die fundiert informiert und aufzeigt wie und in welchem Ausmaß Grenzen gewahrt werden. Damit Sexualität alles in allem - auch für die Jugendlichen unserer Zeit - als etwas Schönes und Positives erlebt werden kann.
Die wichtigste Rolle dabei nehmen die Eltern ein. Allerdings: „Informationen, fundiertes Wissen und ein realistisches Bild von Sexualität sind bedeutende präventive Maßnahmen, um den eingangs genannten Trends entgegenzutreten", betont Lackner. Daher braucht es zusätzliche Angebote, einerseits durch die Schule im Biologie- und Sexualkundeunterricht, andererseits durch externe BeraterInnen, die auch der Grundsatzerlass Sexualpädagogik (2015) des Bildungsministeriums empfiehlt. Denn für zeitgemäße Sexualpädagogik ist mehr nötig, als den Kindern zu vermitteln, woher die Babys kommen. Außerdem muss man Jugendlichen den vertrauenswürdigen Rahmen und AnsprechpartnerInnen für das Stellen von intimen Fragen und das Reden über ihre Probleme geben.
Insgesamt fließen jährlich 115.000 Euro an Förderungen aus dem Ressort Bildung und Gesellschaft an Institutionen und Vereine, die direkt mit Mädchen und Burschen arbeiten, aber auch mit Erwachsenen; die Workshops veranstalten, Fortbildungen für LehrerInnen und Fachtagungen für ExpertInnen u. v. m. „Ich unterstütze wo es geht, wodurch Vieles ermöglicht wird, wenngleich wir alleine aufgrund der enormen Nachfrage wissen, dass noch viel mehr notwendig wäre, um den geschilderten Entwicklungen und den damit verbundenen Herausforderungen gewachsen zu sein", so Lackner.
Verein „liebenslust“
Als Zentrum für Sexuelle Bildung bietet liebenslust* Workshops, Vorträge und Fortbildungsprogramme an. liebenslust* unterstützt und begleitet Institutionen beim Erstellen von sexualpädagogischen Konzepten und entwickelt sexualpädagogische Materialien für die barrierefreie Kommunikation über Sexuelle Bildung.
Das Expertenteam, bestehend aus Erziehungs- und BildungswissenschaftlerInnen mit Schwerpunkt interdisziplinäre Geschlechterstudien und Sexualpädagogik, gewährleistet einen professionellen Zugang, der wissenschaftlich fundiert, praxisnah und lebensweltorientiert arbeitet.
„Wir dürfen die Aufklärung der Jugendlichen ganz sicher nicht den Medien, insbesondere der Pornografie überlassen. Unsere pädagogische Intention ist es, die beflügelnde Leichtigkeit der Sexualität dafür zu nutzen, um direkt und offen über dieses schöne Thema zu sprechen, ohne Angst davor auch auf die Schattenseiten zu blicken", erklärt Michaela Urabl, Obfrau des Vereins „liebenslust".
Alleine im vergangenen Jahr hat der Verein für rund 1100 jugendliche SchülerInnen in 65 Schulklassen und Jugendgruppen (und für 76 MultiplikatorInnen (SozialarbeiterInnen, JugendarbeiterInnen) knapp 400 Workshop- und Reflexions-Stunden in der ganzen Steiermark gehalten. „Wir sind damit an die Grenzen unserer Möglichkeiten gegangen. Die Nachfrage haben wir damit aber bei weitem nicht abdecken können", so Urabl.
Frauengesundheitszentrum
Das Frauengesundheitszentrum bietet seit 2001 Workshops für Mädchen und junge Frauen in Schulen und Jugendzentren an - 2016 waren das 100 Workshops (für Mädchen und Burschen) in der gesamten Steiermark. Die Workshopangebote sind rückgebunden an Erfahrungen aus den Beratungen mit Mädchen und Frauen. Vor allem in dem Bereich reproduktive Gesundheit (Menstruation, Verhütung, Pille danach, ungewollt schwanger, Schwangerschaft ...). „Wir achten auf Qualität und internationale Standards - unsere Workshopleiterinnen sind ausgebildete Sexualpädagoginnen. Eine weitere Grundlage sind unsere Verankerung in der Gesundheitsförderung und unsere Expertise zu gesundheitlichen Folgen von Gewalt und zu Gesundheitskompetenz", so Veronika Graber, Sexualpädagogin des Frauengesundheitszentrums. „Die Nachfrage nach den Workshops ist groß. Es gibt mehr Anfragen von Schulen und Jugendeinrichtungen, als wir bewältigen können."
Verein für Männer- und Geschlechterthemen Steiermark
Die Fachstelle für Burschenarbeit ist Teil des Vereins für Männer- und Geschlechterthemen Steiermark (vormals Verein Männerberatung). Der gemeinnützige Verein für Männer- und Geschlechterthemen Steiermark trägt seit 1996 zur Weiterentwicklung unserer Gesellschaft in Richtung Vielfalt, Gerechtigkeit, Gleichstellung der Geschlechter und Gesundheit bei: Durch Beratung von Männern und männlichen Jugendlichen, Burschenarbeit, Bildung und Forschung etc.
In den Workshops der Fachstelle für Burschenarbeit werden jene Themen besprochen, die von den Jugendlichen eingebracht werden und für sie von Interesse sind: Körper und Sexualität, Mann sein, Gesundheit, Arbeit, Gewalt etc. „Wir bearbeiten diese Themen gemeinsam mit den Jugendlichen oder deren Lehrpersonen. Jede/r TrainerIn der Fachstelle für Burschenarbeit verfügt über eine abgeschlossene psychosoziale Ausbildung. Zur Qualitätssicherung werden die Erfahrungen laufend im Team reflektiert", betont Christian Scambor.
Gerade wenn Sexualität Thema des Workshops ist, tauchen bei Erziehungsberechtigten Fragen und manchmal auch Fragen oder Befürchtungen auf. Deshalb gibt es vorab genaue Informationen über Ziele und Arbeitsweise, u. a. in Form eines Elternbriefes. Eltern/Erziehungsberechtige sind aufgrund der zentralen Rolle im Leben der Kinder und Jugendlichen auch in der Sexuellen Bildung wichtige Vertrauenspersonen. Gleichzeitig ist es für viele Eltern nicht einfach, das Thema Sexualität mit ihren eigenen Kindern zu besprechen, möglicherweise aus familiären, kulturellen oder religiösen Gründen.
Dass Heranwachsende intimste Themen nicht mehr mit den Eltern bereden wollen, ist zudem Ausdruck eines altersentsprechenden Ablösungs-Prozesses. Aus Neugierde suchen die Kinder oft selbst nach Informationen im Internet, den Sozialen Medien oder im Freundeskreis, der möglicherweise selbst nicht gut informiert ist.
In den Workshops finden die Jugendlichen einen geschützten Raum, um die zahlreichen Eindrücke aus Internet, Medien und von Gleichaltrigen zu verarbeiten. Jeder Jugendliche soll darin gestärkt werden, sein eigenes Tempo zu finden und auf sich und andere zu achten.
Ziel ist eine positive und respektvolle Annäherung an die Sexualität(en) und sexuelle Beziehungen - frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt.
„Junge Kirche“, Diözese Graz-Seckau
Mit dem Projekt „Abenteuer Liebe 2016" war die „junge Kirche" der Diözese Graz-Seckau in der gesamten Steiermark unterwegs. Die Workshops fanden in der 4. Klasse Volksschule statt, in unterschiedlichen privaten und öffentlichen Pflichtschulen, NMS, Sonderpädagogischen Schulen und Gymnasien sowie in weiterführenden Schulen (AHS, BHS, Produktionsschule), aber auch im Rahmen des Firmunterrichtes in Pfarren. „Zu den Workshops wird im Vorfeld ein Elternabend angeboten, der vorwiegend von Volksschulen genutzt wird", so Ingrid Lackner, Referentin für „Abenteuer Liebe" der jungen Kirche Graz.
5700 SchülerInnen besuchten 486 Workshops mit der Dauer von je fünf bis sechs Unterrichtseinheiten. An 27 Elternabenden (1 ½ h) haben 571 Erziehungsberechtigte teilgenommen.
Weshalb braucht es in der Sexualpädagogik externe Experten/innen? :
Sexualerziehung ist ein Unterrichtsprinzip und dazu gibt es einen Erlass. Darin steht auch explizit, dass Pädagogen/innen Experten/innen zuziehen können/sollten.
Gerade in der Phase der Pubertät ist vieles rund um Körperlichkeit und Sexualität sehr peinlich (das ist nach wie vor so!) daher hat sich aus unserer Erfahrung sehr bewährt in geschlechtsspezifischen Gruppen zu arbeiten - das ist im Regelunterricht nicht möglich. Die Burschen freuen sich einmal „von Mann zu Mann" zu reden (Männer sind in der Erziehung unserer Kinder und Jugendlichen ja „Mangelware")
Die allerpeinlichsten Fragen und pubertären Unsicherheiten werden offen diskutiert, wenn die Teilnehmer/innen wissen, dass wir eine vertrauten Rahmen garantieren, nicht am Elternsprechtag Auskunft geben müssen etc.
Sexualität ist ein intimes Thema, nicht jeder Pädagoge/jede Pädagogin traut sich ein offenes Gespräch darüber zu.
Sexualerziehung gehört ins Elternhaus - das wird oft gefordert. Unsere Erfahrung dazu:
Eltern sind froh, wenn dazu auch in der Schule etwas gemacht wird.
Sexualpädagogik geschieht im Elternhaus nicht bzw. nicht ausreichend .
Das Gespräch daheim ist für Jugendliche oft sehr peinlich.
Jugendliche erfahren in unseren Workshops: auch mit Erwachsenen lassen sich heikle Fragen und Themen unaufgeregt besprechen.
Warum braucht es Fördergelder von öffentlicher Hand
Sexuelle Bildung hat präventive Wirkung auf die sexuelle Gesundheit - das ist von allgemeinem Interesse
Eltern und Schule würden Angebote mit diesem wichtigen Thema nicht finanzieren können.
Schulleiterin Margareta Fritz, Musik-Mittelschule Ferdinandeum, Graz
Die Schule hat die Aufgabe, mit einer offenen, zeitgemäßen und werterfüllten Orientierung an der Bewusstseinsbildung der Schüler und Schülerinnen in Fragen der Sexualität und Partnerschaft mitzuwirken. Die Sexualerziehung ist als Teil der Gesamterziehung anzusehen; die Zusammenarbeit mit dem Elternhaus ist daher von besonderer Bedeutung. Vorhandenes Wissen über Sexualität ist in der Schule zu ergänzen, zu vertiefen und gegebenenfalls zu berichtige, besagt ein erlass des Bildungsministeriums.
Ein eigenes Fach Sexualkunde gibt es bei uns nicht, der Biologieunterricht sieht schon in der ersten Klasse den Menschen als Lehrstoff vor. Die Vermittlung von Wissen allein führt zu keinem Diskurs und kann die Forderungen des Erlasses nicht abdecken. Auf Grund des individuellen Naheverhältnisses von SchülerInnen und LehrerInnen und ihrem individuellen Zugang zur Sexualität ist es nicht immer möglich, dass dieser Diskurs stattfindet. Wir bieten den Kindern durch LehrerInnen, SchulärztInnen und vor allem externen BeraterInnen mehrere Kanäle an, ihre Neugier zu stillen, damit sie sich nicht unreflektiert Informationen holen.
Kinder (niemand wird verpflichtet, daran teilzunehmen) können Fragen stellen, die sie oft weder den Eltern noch den LehrerInnen stellen. Gerade weil kein Naheverhältnis besteht, öffnet sich da ein Raum für Fragen, die sonst leicht im Tabu untergehen. Ganz wesentlich sind auch immer die Ausblicke - was passiert da im Internet. Wir haben im heurigen Jahr ein Projekt „Internet, das Tor zur Welt für unsere Kinder" organisiert, bei dem wir neben „Internet" und „Spiele" auch die sexuelle Bildung mit Workshops miteinbeziehen. Denn spätestens mit dem ersten Smartphone in der Gruppe haben Kinder Zugang zur virtuellen Welt, die dann für sie sofort auch die reale Welt ist. Dafür brauchen sie Kompetenzen, Strategien: Was wähle ich aus der Fülle aus und wie gehe ich mit dem Material um, das an mich herangetragen wird? Was bedeutet es für mich, wie ordne ich es in meine Sexualität ein. Es geht hier auch um Körperbewusstsein, um Verschiedenartigkeit, um Akzeptanz.
Dieses Projekt ist vom Schulforum beschlossen und wird gemeinsam mit dem Elternverein ausgeführt. Die Einbeziehung der Eltern ist ein wichtiger Punkt - im Rahmen dieses Projektes hat im Vorfeld auch schon ein Eltern- und ein LehrerInnenworkshop stattgefunden, bis jetzt mit äußerst positiven Rückmeldungen. Eltern sind dankbar, dass es eine zusätzliche Stelle gibt, wo Kinder sich mitteilen können.